Historie

Neues Leben im alten Fachwerkgemäuer

Die Gaststätte „Schwanen“ gehört zu den ältesten Häusern in der Gemeinde Nehren.
Die Geschichte des Gebäudes reicht weit in die Vergangenheit zurück. Ausgrabungen unter Leitung des ortsansässigen Mittelalterarchäologen Sören Frommer, während der Umbaumaßnahmen unternommen, förderten einige Erkenntnisse zutage.
Seine vorläufige Einschätzung geht davon aus, dass die Besiedlung auf dem Platz, auf dem der „Schwanen“ heute steht, im Zeitraum der zweiten Hälfte des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts begann. Ältestes Gebäude dürfte ein Fachwerkbau auf Steinschwellen sein, der sich teilweise unter dem Strecke erstreckte, über die heutigen Grundstücksgrenzen hinausgehend. Beim aktuellen Forschungsstand könne man, meint der Experte, unter dem „Schwanen“-Gebäude „einen herrschaftlichen Hof in solitärer Lage“ vermuten. Denkbar ist aber auch ein Gasthaus zwischen den zwei damals noch getrennten Orten Hauchlingen und Nehren, die in späteren Zeiten zusammenwuchsen.
In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist das Areal komplett umgestaltet, der Fachwerkbau niedergelegt, das Fundament zum Teil ausgebrochen worden. Der Nachfolgebau stützte sich auf Fundamente, die, trocken gemauert, etwa 80 Zentimeter breit waren. Im Keller des Hinterhofs wurde aufplaniert und ein neuer Steinboden eingebracht, der Keller mit neuen Mauern versehen. Der überwölbte Zugang lag zur Bohlstraße hin, die es freilich noch gar nicht gab. Am Ende dieses „Kellerhalses“ lassen sich Fundamente eines Fachwerkbaus nachweisen. Dieser Neubau wurde wahrscheinlich durch einen Brand notwendig, der Boden im Keller erwies sich als ziemlich holzkohlehaltig. Der spätmittelalterliche Bau ist bereits „mit einiger Wahrscheinlichkeit“ als Gasthaus zu werten. Die Untersuchung der Kellerverfüllung und des Bodens förderte, neben unterschiedlicher Baukeramik, in auffälliger Häufigkeit, rautenförmig zugeschnittenes Flachglas zutage. Dazu eine Menge grüner Hohlgläser, zum Teil mit Fadenauflagen versehen, optisch oder formgeblasen, auch solche mit Nuppenbesatz, also mit Glastropfen verziert. Allerdings handelt es sich nicht um „Spitzenprodukte“ der damaligen Zeit. Andererseits waren in den Bauernhäusern damals überhaupt keine Gläser zu finden. Hinweis also auf ein Gasthaus. Im Gebäude gab es in jedem Fall einen Kachelofen, darauf deuten unglasierte Schüsselkacheln und grüne Renaissancekacheln.
Der Neubau aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts oder ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts scheint „ziemlich exakt deckungsgleich“ mit dem Anbau gewesen zu sein, der im Jahr 2016 abgerissen wurde. Es muss sich um ein Nebengebäude des Gasthofs gehandelt haben. Für den Archäologen ergeben sich „spannende Fragen“: ob der Bau eventuell in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts gehört, die als Inschrift überlieferte Jahreszahl 1698 nur eine Renovierung oder einen Wiederaufbau nach Zerstörung bezeichnet? Die Erkenntnisse passen gut zu Nehrens frühneuzeitlichen Gehöftstrukturen, der Anbau bildet mit dem Gasthaus und der Doppelscheuer, die auf den Flurkarten von 1843 zu erkennen ist, mit seiner rechtwinkligen Anordnung einen geschlossenen Hakenhof. Der Zugang erfolgte von der Hauptstraße her, bis 1764 das „Rotkreuzhäusle“ gebaut wurde. Wahrscheinlich wurde dann der Zugang in den Hof verlagert, dort, wo sich jetzt der Biergarten befindet.

Die Gaststätte Schwanen hat also eine lange Tradition. Die Namen der Wirte und Pächter mittlerweile bis ins 17. Jahrhundert bekannt. Wie oft mögen hier in der Hauptstraße nach altem Brauch Hochzeiten stattgefunden haben. Beginnend mit dem Zug zur Kirche, wie Dorfchronist Friedrich August Köhler vermeldet, nachdem der Bräutigam seine Braut aus der Kammer geholt hatte. „Nach geschehener Trauung geht der feierliche Zug in ein Wirthshaus, auf dessen Hofraum oder Tanzlaube, der Schulmeister, um den die Leute einen Kreis schließen, im schwarzen Mantel sein Manuscript vor sich im Hute eine sogenannte Abdankung hält, das heißt, einen meist erbärmlichen Galimathias mit sehr wichtiger Miene abliest und dafür mit 24 bis 30 Kreuzern honoriert wird.“ Der Schankraum hat viel gesehen, hier trafen sich etliche Stammtische, fanden sich Vereinsmitglieder nach ihren Proben ein, stritten sich Gemeinderäte nach den Sitzungen weiter. Oder versöhnten sich bei Wulle-Bier, Most und Kirschengeist. Gottlieb Schneider, der im März 1960 im hohen Alter von 91 Jahren verstarb, war sagenhafte 57 Jahre „Schwane“-Wirt, ein Mann von hohen Kommunikationsgaben, der, später erblindet, die Stimmen seiner Gäste zu unterscheiden und zuzuordnen wusste. Zigarrenraucher Schneider war über alles bestens informiert, galt auch als Wandellexikon in Sachen Dorfgeschichte. „Dr Ähne“, wie man ihn nannte, verfügte über ein erstaunliches Gedächtnis. Ereignisse, gleich, ob 10 oder 60 und noch mehr Jahre zurückliegend, schilderte er mit einer verblüffenden Genauigkeit. Der Dorfchronist der fünfziger Jahre, Helmut Berner, befragte ihn in mancher Angelegenheit. Wenn Schneider wusste, dass auf dem Rathaus nebenan die Gemeinderäte tagten, ging er nicht zu Bett, bevor sie nicht in der „Schwane“ zur Nachsitzung eingekehrt waren. In der Lenzei in Tübingen hatte der Gottlieb einst das Biersieden gelernt. Nach einigen Wanderjahren, die ihn bis nach Kassel und in die Schweiz führten, machte er sich 1903 zuerst auf dem „Grünen Baum“ als Gastwirt selbständig, zwei Jahre später kaufte er dann die „Schwane“, in der er nun 57 Jahre seines Lebens zubringen durfte. Er entstammte einem tüchtigen und überaus gesunden Geschlecht. Einer seiner Vorfahren war der letzte Bauernschultheiß der Gemeinde gewesen. Er selbst war 23 Jahre lang Gemeinderat.
Einer Meldung des „Steinlachboten“ können wir entnehmen, dass die Küche in der Nachkriegszeit die Schulkinder versorgte. Am 10. Juli 1950 wurde, wie es hieß, an der hiesigen Volksschule die Schülerspeisung eingestellt. „Eine Umfrage bei den Eltern hatte ergeben, dass für eine Weiterführung nur geringes Interesse bestand. Insgesamt wurden seit dem 10. Mai 1949 44 750 Mahlzeiten verabreicht, die einen Kostenaufwand von rund 3000 Mark verursachten. Davon wurden rund 2000 Mark durch freiwillige Spenden aufgebracht. Besonderer Dank gebührt der Schwanenwirtin Frida Dürr, die den Kindern stets ein schmackhaftes Essen zubereitet hat.“
Wie oft ist man hier im Schwanen in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gesessen, während Bilder ausgestellt waren, damals, als der „Schwanen“ als Kulturkneipe sogar über Tübingen hinaus wegen seiner exquisiten Küche eine Ausstrahlung entwickelte. Der Pächter ging damals nach Ostdeutschland. Im Jahr 1992 wurde das Lokal, mittlerweile im Besitz der Gemeinde, aufwendig hergerichtet, mit 400 000 Mark, schon allein um der Erhaltung der Bausubstanz willen. Dem Gemeinderat ging es damals nicht um die Rentabilität. Allerdings wurde auch die Konzession für das Wirtshaus von den Behörden in Frage gestellt, weil die Kücheneinrichtung in keiner Weise mehr dem Standard entsprach. Der Sanitärbereich wurde ganz erneuert. Dankenswerterweise kümmerte man sich auch um das Wirtshausschild, an dem das Zeitgebiss genagt hatte. Die Pächter wechselten danach recht häufig, die Wohnbedingungen wurden zuletzt unerträglich. Seit längerem stand das Gebäude nun leer, verspinnwebte innerlich und geriet ins Abseits. Im Jahr 2014 war das Dornröschen-Dasein dann vorbei. Die „Schwanen-Abende“ haben das Haus wiederbelebt. Nun betreibt die Genossenschaft die Gaststätte, die damit wieder Treff- und Mittelpunkt der Gemeinde ist.